Unheimlich by Ursula Isbel-Dotzler

Unheimlich by Ursula Isbel-Dotzler

Autor:Ursula Isbel-Dotzler
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: SAGA Egmont
veröffentlicht: 2018-06-08T00:00:00+00:00


* * *

Erst jetzt wurde mir klar, wie weitläufig Rose-Manor war, gebaut für eine große Familie und zahlreiche Bedienstete. Fast schien es, als läge das Haus im Dornröschenschlaf, während draußen der Wind alte Lieder sang, wie es in Andersens Märchen von der Schneekönigin heißt.

Alte Lieder… Ich blieb auf einem der Seitenkorridore stehen und lauschte, denn wieder war mir, als hörte ich jemanden singen, als hätte der Wind selbst eine Stimme. Oder war es Ethel, die sich hier irgendwo versteckt hielt und jenes Lied von den drei kleinen Prinzessinnen sang, das ihr so gefiel?

Ich öffnete eine Tür zur Rechten und betrat ein Zimmer, in dem ich nie zuvor gewesen war. Es war ein sehr kahler Raum. Früher mußten große Bilder oder Karten an den Wänden gehangen haben, denn die hellen Stellen hoben sich deutlich von den rußgeschwärzten Tapeten ab. Ein paar Stufen führten zu einem Erker mit hohen Fenstern, von denen man über die Küste und aufs Meer sehen konnte. Die Einrichtung bestand aus zwei langen Tischen, einigen alten Stühlen mit steifen Lehnen und einem Schrank.

Erst als ich mich über einen der Tische beugte, begriff ich, daß dieser Raum einst das Schulzimmer von Rose-Manor gewesen sein mußte. Die Eichenplatte war mit Tintenflecken und Kritzeleien bedeckt. Da waren Strichmännchen und Tiere, von kindlicher Hand gezeichnet, dazwischen Buchstaben und Zahlen, ein Baum und die einfachen Umrisse eines Bootes.

Mein Blick blieb auf dem Boot haften. Es erinnerte mich an etwas, doch ich wußte nicht, woran.

Ich schloß die Augen und sah das Boot noch immer ganz deutlich vor mir. Doch dann löste es sich plötzlich auf und wurde zu einem anderen Bild, das ich schon einmal verschwommen gesehen hatte. Nun war es mit einemmal sehr klar. Ich sah eine Höhle zwischen Felsen, deren Boden zum Teil von Wasser überflutet war. Und auf einem Felsvorsprung kauerte jemand – eine kleine Gestalt mit schwarzem Haar…

Heftiger Schrecken durchzuckte mich. Das Bild verschwand, und ich öffnete die Augen wieder. Der Sturm rüttelte an den Fensterläden. Das kahle Schulzimmer um mich her war unverändert.

Ich ging aus der Tür, den Korridor entlang, die Seitentreppe hinunter und über die Haupttreppe in die Halle.

Amy Ferguson war in der Küche. Ich hörte sie mit dem Geschirr klappern. Sie stand am Spülbecken, und als sie mich kommen sah, fragte sie: „Ist die Lassie wieder aufgetaucht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe sie nicht gefunden. Ich wollte nur… Sagen Sie, gibt es hier an der Küste irgendwo eine große Felshöhle?“

Sie warf mir einen verwunderten Blick zu. „Wie kommen Sie darauf? Höhlen gibt‘s mehrere hier in der Gegend, aber mich dürfen Sie da nicht fragen. Ich bin nie in einer gewesen, wüßte nicht, was ich in so einem dunklen Loch sollte. Warum fragen Sie?“

Es wäre doch möglich, daß Ethel sich in einer von diesen Höhlen versteckt hält“, erwiderte ich zögernd.

„Möglich ist bei ihr alles, aber glauben tu ich‘s nicht. Die steckt irgendwo auf dem Dachboden oder im Keller, vielleicht ist sie auch im Park. Machen Sie sich keine Sorgen, Miß. Ethel ist schon so manches Mal verschwunden und stets wiedergekommen.



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